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Was reden die Steine? Steine gehören nicht zu den Teilen der Natur, die Laute, die Geräusche von sich
geben. Allenfalls, wenn der Wind darüber geht, hört man in der Brechung des Windes die Steine reden.
Aber vielleicht reden ja die Steine und wir hören es nicht? Ursprüngliche Kommunikationsverfeh-
lung wäre
das, so wie wir vieles hören und es nicht wahrnehmen oder nicht verstehen. So hat die Sprache der Steine
für die Künstler aller Generationen eine ungeheure Anziehungskraft gehabt, und es ist kein Wunder, dass
Wilfried Behre in jahrelanger Bemühung Steine und nichts als Steine bearbeitet. Vielleicht ist ja auch die
Sprache der Steine nichts als eine Projektion des Menschen - aber dies wäre ja schon aufregend und
aufschlußgebend genug.
So lassen Sie mich heute vier Künstler mit Ihren Vorstellungen über die Sprache der Steine vor Ihnen
explizieren - einer davon wird Wilfried Behre sein.
Vielleicht hören wir danach die Steine reden - oder sie bleiben stumm, ein einziges Rätsel,
das uns bleibt.
1. Johann Wolfgang von Goethe
Mit meinem ersten Exempel greife ich gleich sehr hoch und weit. Es ist niemand anders als Johann Wolfgang
von Goethe, den ich an den Anfang stellen möchte.
Sie wissen vermutlich alle, dass Goethe auch ein bedeutender Naturforscher nicht nur in der Farbenlehre
war, und dass er fasziniert war von Steinen. Immer wieder ist er auf die Mineralogie zurückgekommen,
Goethes geologische Schriften umfassen etwa 200 Abhandlungen. Sein Leitgedanke war, wie weit die Natur bei
der Gesteinsbildung nach bestimmten Gestaltungsgesetzten verfahren ist. Er sah in dem Aufbau der Gebirge
beispielsweise das erste Streben nach Formgebung in der Natur, das dann in der organischen Welt zu immer
größeren Triumphen der Gestaltvollendung gelangte. Am 7. September 1780 schrieb er an seine engste
Gesprächspartnerin, die Frau von Stein: "Wir möchten gar zu gern der großen formenden Hand nächste
Spuren entdecken". Das ist so ungefähr das Programm im Forschen und Denken Johann Wolfgang von Goethes.
Goethe war dabei ein Vertreter der Richtung, die man in der Mineralogie einen Neptunisten nennt. Auf der
Grundlage der Theorien des Geologen und Mineralogen Abraham Gottlob Werner aus Freiberg (1749-1817) sind
dies Vertreter der Richtung, die behaupten, die Gesteinsbildung habe von einem flüssigen Urzustand ihren
Ausgang genommen. Aus dieser Urflut habe sich durch chemische Vorgänge zuerst der Granit gebildet. Er sei
daher die älteste und ursprünglichste Felsart, die "Grundfeste unserer Erde".
1784 schreibt Goethe einen Aufsatz über den Granit. Auf den will ich ein wenig näher eingehen, um Goethes
Antwort auf die Sprache der Steine zu konkretisieren. Er beschreibt, wie er auf einem hohen nackten Felsen
sitzt und die ganze Gegend überschaut. Er hört die Sprache der Steine, und die sagt: Hier ruhst du unmittelbar
auf einem Grunde, der bis zu den tiefsten Orten der Erde reicht. Da ist nichts dazwischen, keine Trümmer einer
Urlandschaft, nichts Angeschwemmtes, keine Erde. In der Betrachtung dieses Urgrundes, in dem Hören auf diese
Stimme der Steine wird ein Gleichnis in mir rege: O einsam, sage ich zu mir selber, indem ich diesen ganzen
nackten Gipfel hinabsehe und kaum in der Ferne ein kleines Moos wachsen sehe: so einsam, sage ich mir, wird
es dem Menschen zumute, der nur den ältesten, ersten, tiefsten Gefühlen der Wahrheit seine Seele eröffnen will.
Lange hält er es nicht aus, der Betrachter, in dieser Einsamkeit. Bald weckt die brennende Sonne Durst und
Hunger, bald drängt die Seele der vergangenen Jahrhunderte, bald drängt die Geschichte heran. Aber immer
wieder auch bewegt sich die Seele zu der Einsamkeit der Anfänge zurück. Ich sehe den Felsen selbst an, dessen
Gegenwart meine Seele erhebt und sicher macht. Ich sehe ihre Masse von verworrenen Rissen durchschnitten, auch
hier ist alles nur Trümmer, Unordnung und Zerstörung. Aber ich dringe dann doch immer wieder hindurch in die
Erhabenheit der Anfänge. Die Arbeit Goethes über den Granit bricht plötzlich ab, nämlich an der Frage, ob der
Granit eine formlose Masse sei oder eine Gestaltungsregel erkennen lasse. Aber es ist wohl dann doch bedeutsam,
dass selbst für Goethe die Sprache der Steine keine eindeutige Sprache war. Dass das ein Rätsel war und ein
Rätsel blieb: der Impetus, etwas Wichtiges gehört und gespürt zu haben, ohne dass man es wirklich wohl benennen
kann.
2. Ich springe nun zu zwei Künstlern der Gegenwart, die sich vor allem als Bildhauer verstanden haben, auch
wenn sie vor allem Werke aus Bronze oder anderen Materialien geschaffen haben. Aber der Stein hat Sie
umgetrieben, ob es nun der Marmor war oder ein anderer Stein, und verständlicherweise ist das Nachdenken
und das Nachforschen über die Gesetze der Natur nahezu dasselbe, ob es einer ist, der mit ganzer Mühe und
Kraftanstrengung eine Figur aus Stein haut oder einer, der sie in Bronze gießt, aber eben in seiner natürlichen
Gestalthaftigkeit neu erfindet.
Als ersten der beiden modernen Künstler möchte ich mich mit Ewald Mataré beschäftigen. Mataré können Sie
durchaus mit Gerhard Marcks vergleichen, was Marcks als protestantischer Künstler war, war Mataré als Katholik.
1887 ist er in Aachen geboren, und wenn Sie sich Kirchenportale von Mataré anschauen wollen, die unserem
vergleichbar sind, dann sehen Sie sich die Türen an der Südseite des Kölner Doms an. Durch Tierplastiken ist
Mataré in besonderer Weise berühmt und bekannt geworden: der liegende Stier oder der schlafende Stier ist eine
große, feste Masse an Körperlichkeit, und ein Gehörn oder ein Ohr steht plötzlich deutlich und klar heraus.
Aber ich will hier heute keine Werkanalyse von Mataré betreiben, sondern ihn und sein Werk befragen, wie er
die Steine reden hört. Da sagt Mataré, er habe ein starkes Verhältnis zu Goethe gehabt. In einer bestimmten
Weise Kräfte und Elemente der Natur zu entdecken, das sei ihm entscheidend wichtig gewesen. In bestimmten
Bereichen der Natur eine Harmonie wiederzufinden, einen Klang zu hören, der in einer Harmonie beginnt und
endet, das sei auch für ihn endscheidend gewesen. Eine Harmonie wahrzunehmen und zu hören, das bedeutet auch,
vom Detail zum Ganzen zu gehen und aus dem Detail ein Ganzes zu postulieren. In der Natur, so meint es Mataré
zu hören, gibt es keine Zufälligkeiten, keine Willkür. In der Natur gibt es eine tiefe Gesetzmäßigkeit. Natur
ist ein Kosmos, und ein Kosmos ist eine geordnete, eine beziehungsgesättigte Welt. Die Geometrie wird für Mataré
wichtig, die die wahrgenommene Erscheinung der Grundzeichen ist, die aus der Sprache der Natur an uns dringen.
Das hat für das künstlerische Schaffen eine klare und eindeutige Konsequenz. Es kann nicht darum gehen, einem
Material, also einem Stein, eine bestimmte Idee aufzupfropfen, diese Idee einem Ideenträger aufzuzwingen.
Mataré entwickelt an diesem Punkt den Gedanken des Dialogs mit dem Material, also etwa mit dem Stein. Er sagt:
Wenn Sie als Bildhauer lernen, Dinge hervorzubringen, die sich aus sich selbst heraus erklären können, dann sind
Sie auf einem guten Weg. Er meint damit, die Arbeiten eines Bildhauers müssten, wie ein einfaches Handwerksgerät
in seinem Formzusammenhang, ohne lange Erklärung aus sich selbst begreifbar sein. Aus dem Dialog mit dem
Material wird etwas freigelegt, was sich in der Betrachtung selbst erschließt und selbst erklärt. Was Sie
aus der Sprache der Steine hören können, ist nach Mataré dieses: da ist eine geheime und verborgene Ordnung
in der Natur, die die Kunst aufdeckt und sichtbar macht und die wir in unmittelbarer Evidenz begreifen. Wer
Plastiken von Mataré kennt, wird dieses verstehen können. Steine reden, und sie reden nicht von der unendlichen
Einsamkeit, sondern von der Zusammengehörigkeit aller mit allem.
3. Als zweiten Künstler der Moderne möchte ich einen Künstler wählen, der noch weiter in die Subjektivität
der eigenen Gestaltung hineingeht, als dies Mataré tut. Ich meine Hans Arp. 1886 ist Arp in Straßburg geboren,
1966 - lange in Paris lebend - dort gestorben. Wenn man seine Plastiken kennt, etwa die, über die ich im
Sprengel Museum Hannover 1983 einen Fernsehgottesdienst gehalten habe, "Menschlich, mondhaft, geisterhaft",
so ist man leicht der Meinung, dass hier ein Künstler seinem Material aus Stein und Bronze wie auch immer
seine Idee aufdrückt. Aber weit gefehlt. 1955 schreibt Hans Arp einen Aufsatz über das, was er "Konkrete Kunst"
nennt, und konkrete Kunst das ist seine Kunst. Das ist allerdings richtig: Hans Arp hört nicht die Steine reden,
in totaler Unmittelbarkeit, und seine Kunst ist keine Nachbildung der Natur. Er beginnt auch diesen Aufsatz mit
dem programmatischen Satz: "Wir wollen nicht die Natur nachahmen". Nein Kunst im Sinn von Hans Arp kann nicht
die Nachbildung der Natur sein. Aber sie ist nun auch kein Vorgang, der Natur direkt entgegengesetzt, der ihr
sozusagen aufgezwungen wird. In der Sprache von Hans Arp lautet das so: "Wir wollen nicht abbilden, wir wollen
bilden. Wir wollen bilden wie die Pflanze ihre Frucht bildet, und nicht abbilden. Wir wollen unmittelbar und
nicht mittelbar bilden". Das ist natürlich sehr unpräzise und sehr metaphorisch gesagt. Aber das heißt doch:
Arp will keine einfache Abbildung der Natur - wozu braucht man das denn auch noch. Arp will eine eigenständige
künstlerische Gestaltung, die aber die schöpferischen Impulse der Natur aufgreift und weiterbildet. Deshalb auch
seine Idee: diese Bildhauerarbeiten, diese Dinge sollen in der großen Werkstatt der Natur sozusagen sein wie die
Wolken, die Berge, die Meere, die Tiere, die Menschen. Auch die Menschen sollten sich in die Natur einfügen. Und
die Künstler sollten in der Gemeinschaft arbeiten wie die Künstler des Mittelalters. Der Künstler steht in
seiner Arbeit vor einem großen, vor einem göttlichen Problem. Aber dies ist nun kein Problem der Ordnung mehr,
es ist nach Arp ein Problem des Zufalls. Das Problem des "Zu-Falls" formt den menschlichen Geist. Und so
arbeitet Hans Arp an seinen Plastiken: geduldig, oft jahrelang, bis ihm etwas zufällt. Bis er die Steine reden
hört, und die Steine sagen ihm solche Titel an, und das ist keine immerwährende Ordnung einer sich
gleichbleibenden Natur: "Schwarzer Wolkenpfeil und weiße Punkte" - "Pflanzenwappen" - "Arabische Nacht -
Blätter nach dem Gesetz des Zufalls geordnet". Hier ereignet sich im Dialog zwischen Mensch und Natur eine neue
Ebene der Kategorien: eine Ebene des Menschlichen, die auf ihre Zugehörigkeit zu Stein und Materie nicht
verzichtet, aber aus ihr Anregungen bezieht, die sie in analoger Schöpferkraft verarbeitet. Der Künstler wird
zu einer neuen Creator Mundi aus dem Stoff des Weltalls. Die Steine reden: was sie sagen, muss noch erfunden
werden.
4. Steine reden - ob wir die Sprache der Steine verstehen? Ein faszinierendes Kapitel ist das, den Zusammenhang
alles Geschaffenen zu begreifen versuchen und dem nachzugehen, was ja auch geschaffen gewordene Materie ist,
und sein Geheimnis zu erlauschen. So kann ich es gut verstehen, dass Wilfried Behre sein Leben daran setzt, die
Sprache der Steine zu verstehen und in dem, was er gestaltet, ihr eigenes Wesen deutlicher zum Reden zu bringen.
Was höre ich heraus, das will ich nun als letztes fragen, was sagen mir die Skulpturen in der Bearbeitung, wie
sie Wilfried Behre uns hier in der Marktkirche präsentiert.
Drei Dinge meine ich zu hören. Das erste: Die Skulpturen reden zu mir von der Kraft der anderen Naturgewalten.
Ein Prozeß von Millionen von Jahren ist das ja, in dem die Steine geworden sind. Und das ist kein in sich
kohärenter, von allem anderen unabhängiger Prozeß gewesen. Die anderen Naturgewalten haben mit daran gearbeitet.
Das Wasser hat an den Steinen gewaschen, vielleicht sind sie ja sogar durch die Kraft des Wassers das geworden,
was sie sind. Die alte, uralte Frage: was ist eigentlich stärker, dichter: das Wasser oder der Stein. Das
Bewegliche oder das Unbewegliche. Der Wind hat an den Steinen gearbeitet, und wenn der Orkan tobt und die Blitze
zucken, dann lösen sich vielleicht sogar die Wände aus den Felsen. Die Sonne bringt chemische Prozesse hervor,
ich bin naturwissenschaftlich eine Null, ein Chemiker wüsste hier Präzises auszusagen. Und mir scheint, dass
Wilfried Behre in seinen Skulpturen die Kraft und die Präsenz der anderen Naturgewalten sichtbar macht. Da gibt
es Skulpturen, die sehen aus, als habe der Wind die Wüste aufgeraut: eine Wüstenlandschaft von kleinen Hügeln
und Tälern, die der Wind sich schafft. Da gibt es Ausbuchtungen in den Skulpturen, in denen sich das Wasser
sammeln und aus denen die Vögel trinken können. Wasser, Wind, vielleicht auch Feuer, Sonne, Regen: die alten
Urkräfte der Natur, die Heraklit und die anderen frühen griechischen Philosophen besingen, kommen hier ans
Licht. Ein philosopischer Diskurs zwischen diesen frühen Philosophen und der Steinlandschaft von Wilfried
Behre wäre interessant. Ich habe hier heute nicht die Zeit dazu.
Das zweite, schon in dem ersten angedeutet: der Gegensatz von hart und weich spielt in der Materie und also
auch in den Skulpturen von Wilfried Behre eine große Rolle. "Hart wie ein Stein", sagen wir wohl, und das ist
ja auch so recht. Das Steinigen ist eine der frühesten und wirksamsten Todesstrafen. Die frühen Geschütze
schleuderten Steine. Wenn ich auf einen Stein falle, ist die Wunde da. Der Stein scheint das Härteste zu sein,
was es gibt. Aber das Harte provoziert geradezu die Vision des Gegenteils. Das Harte kann so einladend weich
erscheinen. Und so gestaltet Wilfried Behre - aus dem harten Stein - die Weichheit der einladenden Gesten.
Skulpturen gibt es, die wie Sitzkissen aussehen: gemütlich, sanft und weich. Die Skulptur lädt ein zum
Verweilen. Man wird es schon spüren, wenn man sich draufsetzt, dass der Stein nicht nachgibt, dass die
Weichheit eine Täuschung unserer Augen ist. Aber ein Stein ist auch zum Verweilen, zum Nachdenken, zum
Sitzen und Schauen, und die weiche Seite des Steins lädt dazu ein.
Das dritte Element, das mir an den Skulpturen von Wilfried Behre aufgefallen ist und wo ich meine, dieSkulpturen
reden zu hören. Das sind die Abbrüche, die Verwerfungen. Der Bildhauer scheint es gerade darauf angelegt zu
haben, die Verwerfungen im Stein, die ja ein Teil des Lebens sind, sichtbar zu machen. Da ist die eine Seite
blank und glatt und schön, und da ist die andere Seite rau und körnig, wie im Rohzustand. Selten gibt es das
Einheitliche, Ganze. Ja, das gibt es auch, das ist die heimliche Vision, die von Vollendung träumt. Aber das
Normale, das ist der Gegensatz der Dinge. Das Normale ist die Erfahrung der totalen Ambivalenz, des Guten und
Schlechten, Schönen und Hässlichen, des Rauen und des Sanften. Und hier höre ich die Skulpturen sam deutlichsten
auch von meinem Leben reden. Ja, so ist das, und ich werde es aushalten müssen, und ich werde in den
Ambivalenzen, in den Gegensätzen meiner täglichen Erfahrungen mein Leben suchen und finden und zu gestalten
suchen, in der Kraft, die mir gerade auch der Aufblick zu dem gibt, der diese ganze Welt mit Steinen und
Pflanzen und Tieren und Menschen, diesen ganzen Kosmos geschaffen hat.
Steine reden. Eine metaphorische Ausdrucksweise ist das natürlich. Stumm und sprachlos liegen sie da, über
Millionen von Jahren hinweg als Zeugen des Gewordenseins und einer uralten Geschichte. Da bringt sie ein
Bildhauer zum Reden, meißelt hier und meißelt da, fügt sein Leben und unser Leben hinein in den Stein und
schafft die Korrespondenzen in der einen Schöpfung, in der alles mit allem doch zusammengehört. Ein Hören durch
das Sehen vermittelt ist das ja, und so mögen Sie durch die Skulpturen wandeln, sehen und hören, und ein wenig
von der Sprache der Unendlichkeit vernehmen. Steine wird es noch geben, wenn alles Leben auf dieser Erde
verloschen ist. Aber noch sind wir da, ganz da, und hauchen den Steinen Leben ein mit unserem Hören, Sehen
und Sein.
Hans Werner Dannowski, Stadtsuperintendent
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